das kostbare Gut – die Zeit
Es gibt wenige Dinge, die extrem kostbar sind, die wir aber nicht kaufen können, wie zum Beispiel die Liebe, unsere Gesundheit und die Zeit.
Die ersten beiden lassen sich erhalten, retten oder auch bewusst kaputt machen, aber die Zeit ist von allem unbeeindruckt. Sie läuft einfach so dahin, zerrinnt unter unseren Fingern, wenn wir doch gerade diesen herrlichen Sandstrand so lieben, das Date so genießen, einen geliebten Menschen im Arm halten. Sie kann sich unendlich in die Länge ziehen, wenn wir in einem langweiligen Vortrag sitzen, auf die Ankunft von jemandem warten oder auf das bestellte Essen. Aber das alles sind reine Empfindungen. Die Zeit läuft immer gleich schnell und wir können sie weder aufhalten, noch anspornen.
So hat auch eine Minute immer nur 60 Sekunden, eine Stunde 60 Minuten und ein Tag 24 Stunden. Je älter du wirst, desto kostbarer wird Zeit. Aber warum ist das so? Laut der Zeitforschung hat es damit etwas zu tun, dass wir mit dem Alter immer seltener Dinge erleben, an die wir uns später noch erinnern. Es hat also etwas mit „erinnerungswürdigen Erlebnissen“ zu tun? Als Kind erlebt man vieles „zum ersten Mal“, deswegen wäre deren Zeitgefühl anders. Das mag schon sein, aber wenn ich mit 50 eine tolle Reise zum ersten Mal mache, ist sie doch auch viel zu schnell vorbei … Ich kann dem einfach nicht zu 100% zustimmen.
Meine Theorie ist eine andere: Viel zu viele Zeiträuber lauern um uns herum, viel zu viel Schnelligkeit wird erwartet. Und je schneller wir Dinge erledigen sollen, je schneller etwas funktionieren soll, desto eher verstricken wir uns und kommen nicht weiter – viel zu lang. Und dieses „Nicht verstrickt-werden“ gelingt jungen Menschen vielleicht einfacher, sorgloser, unbedachter. Sie lassen sich nicht aufhalten, suchen andere Wege, ja es ist halt „ihre“ Zeit. Und wir, die wir 50 sind, hinken etwas hinterher, weil wir vielleicht auch keine Lust mehr haben, durch’s Leben gehetzt zu werden. Aber wir kommen nicht dran vorbei. Denn nichts, wirklich fast gar nichts mehr, läuft heute analog.
Jeder Mensch hat heute schon fast mehr Passwörter als Freunde, und wahrscheinlich konntest du deren Telefonnummer früher auch auswendig, was heute kaum mehr möglich ist, denn eine Vorwahl zeigt schon lange nicht mehr an, WO derjenige zu Hause ist. (So schön ist meine Erinnerung, als meine Oma meinte, ich wäre nicht zu Hause gewesen, weil ich beim Handy nicht abgenommen hatte)
Passwörter müssen auch immer komplizierter werden, denn die Gefahr lauert. Inzwischen frage ich mich zwar, welche Gefahr größer ist. Die, dass jemand bei Zalando Schuhe über mein Konto bestellt, das NICHT mit meiner Kreditkarte gekoppelt ist, oder dass ich die ganzen Passwörter vergesse. Ich bin sicher nicht die einzige, die mindestens einmal im Monat auf „Passwort vergessen“ klickt. Hast du sie dir früher noch aufgeschrieben, hoffst du heute auf „Keyword“ in deinem „vercloudeten“ System. Innerlich möchtest du dich gar nicht mehr mit dem Gedanken auseinander setzen, wenn die Cloud mal regnet.
Eine neue Funktion dort, eine upgedatetes System da, für jeden amtlichen Weg brauchst du heute nicht unbedingt ein Verkehrsmittel, sondern eine Handysignatur. Aber – Leute – dadurch wird nichts schneller, sondern wir nur ungeduldiger. Wir sitzen davor und verzweifeln ob der vielen unterschiedlichen Anweisungen bis wir endlich dort sind, wo wir hinwollten um dann festzustellen, dass das erst der Anfang der Odyssee ist. Eine Bestätigung folgt dem nächsten „klicken Sie hier“. Und dann müssen wir schnell sein, denn „die Sitzung wird in 60 sec automatisch beendet“, wenn du zu lange nachdenkst, oder etwas suchst, oder dich schlichtweg einfach nicht auskennst. Und so hast du oft einen ganzen Vormittag vor dem PC verbraten, ohne zu wissen, WAS dich eigentlich so lange aufgehalten hat.
Hast du dir früher am Schalter in der Bank eine Überweisung getätigt, deine Unterlagen beim Finanzamt abgegeben, so stehst du damit heute vor einem riesigen, vielleicht leeren, Gebäude, in dem es kaum noch Schalter gibt. Für die Überweisung wirst du an einen Kasten verwiesen (den du natürlich nichts fragen kannst) und das Finanzamt arbeitet nur mehr ONLINE. Hilf dir selbst, lautet die Devise – umweltfreundlich schicken wir heute alles durch das weltweite Wirrwarr, und ob du das Ganze verstehst, ist nicht die Frage. Das eingekreiste „i“ hilft dir gerne weiter, oder auch nicht.
Du kannst nicht aus, du musst mit dem reißenden Strom mitschwimmen, sonst bist du raus aus diesem schnelllebigen System. (heute kann ich meine Oma noch viel viel besser verstehen, als sie 1980 einen Kassettenrekorder mit einer von mir klavierbespielten Kassette von meinen Eltern bekam und uns den wieder mit nach Hause gab, nachdem sie sich die Kassette einige Mal angehört hatte. Sie wäre zu müde, um sich mit noch einem neuen Gerät zu beschäftigen, meinte sie) Ach Oma, wie gut kann ich dich heute verstehen, 42 Jahre später stehe ich vor demselben Dilemma. Das Paket, das der Postbote bei dir nicht abgeben konnte, musst du dir heute mit dem QR-Code aus eine Art Spint abholen (dieses Erlebnis hatte mich letztens als ich das für meine Mama erledigen wollte, fast in die Wahnsinn getrieben, als ich davor gefühlt 30 Minuten in der Schlange vor dem Postschalter stand, um dann von der Mitarbeiterin mit den Worten „ach, das kriegen sie in der Postbox“ und ohne weitere Erklärung nach 15 Sekunden abgefertigt zur Seite geschoben war und ohne Paket dastand. Selbst für mich war diese Anweisung etwas zu knapp, aber ich hatte es „geschafft“ – Erfolgserlebnisse gibts heute am laufenden Band – aber meine Mama wäre mit ihren 74 bestimmt daran verzweifelt, davon abgesehen, dass sie nicht mal weiß, was ein QR-Code ist.
Denkt irgendjemand auch an die Menschen, die da nicht mehr mitkommen? Und ich zähle noch ganz bestimmt nicht dazu, bin ich doch Bloggerin, kann Storys mit Musik und GIFs erstellen, kleine Videos schneiden, vertonen, Bilder bearbeiten – und all das mit meinem Handy. Ja, mein Handy ist wie ein kleines Büro, wenn das mal weg ist, dann ist die Kacke am Dampfen. Und es reicht schon, wenn die Gesichtserkennung in den frühen Morgenstunden dein schönheitsschlaf-geschwächtes Gesicht deinem I-Phone nicht zuordnen kann. Das sind schon die ersten Sekunden, die dir geraubt werden, wenn du doch tatsächlich den mittlerweile sechsstelligen PIN eingeben musst, damit dir dein Gerät die neusten Nachrichten anzeigt. Und dann sitzt du schweigsam neben deinem Liebsten, der ebenfalls statt in die Zeitung in sein Handy starrt.
Aber ich will nicht alles verurteilen. Brauchtest du früher massenweise Bücher oder eine Bücherei, so bekommst du heute alles digital, und das auch noch schnell. Jede Information, jede Frage wird dir von sogenannten Suchmaschinen beantwortet und das find ich echt klasse, genauso wie Kindle die Regenwälder hoffentlich länger bestehen lässt und „herunterladbare“ Hörbücher ein Traum sind, aber Bücher bleiben halt Bücher! Denn EINES haben Bücher dem lieben Google voraus: Hast du die Information mal gefunden, dann kannst du sie einfach ungestört lesen, du kannst eine Ecke umknicken, dir ein Lesezeichen reinlegen, es wochenlang aufgeschlagen liegen lassen. Hast du keine Putzfrau oder einen übereifrigen Partner, dann wird dieses Buch immer dort liegen, wo du es liegen gelassen hast, keiner wird die Ecke gerade biegen oder das Lesezeichen rausnehmen, und du kannst diese Stelle immer und immer wieder lesen. Keine Werbung drängt sich blinkend in deine Aufmerksamkeit, keine Newsletter wartet auf Anmeldung, kein Keks möchte bestätigt werden, keine Seite ist nicht mehr „erreichbar“ und vor allem möchte dieses Buch dich auf kein anderes Buch „weiterleiten“, dir eine andere Seite zum Lesen aufdrängen. Es ist einfach still und liegt in deinen Händen. Und genau diese Stille, diese Zeit, in der nichts aufblinkt, kein Akku leer wird, keine Smartwatch um „Zeit für mehr Bewegung“ bettelt, ist so wertvoll. Und jeder kann es tun, ohne Gesichtserkennung, Handysignatur, ohne Passwort und weiterführenden Link oder Abobestätigung. Ich brauch kein Update, bei dem nachher sowie nichts mehr ist wie vorher und ich mich nicht upgedatet, sondern downgegradet fühl.
Ein Buch liegt einfach nur geduldig da und signalisiert dir niemals wieviel Zeit dir noch bleibt. Vielleicht bin ich deswegen schon so oft um 3 Uhr früh totmüde ins Bett gefallen, weil es einfach nur schön war, dieses Buch zu lesen, ohne dass es etwas anderes von mir wollte.
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